Als ich vor ein paar Tagen im Zug von Berlin nach Gotha fuhr, um hier mein Engagement als Stadtschreiberin anzutreten, stand da plötzlich ein Emu auf einer Wiese, fast zum Greifen nah, und musterte mich gelassen. Ich starrte entgeistert zurück. War dieser elegante, mannshohe Straußenvogel, der da irgendwo zwischen Halle und Erfurt herumstolzierte, ein Vorzeichen? Würde von nun an alles anders? Vielleicht haben Sie ja, rein zufällig, am letzten Wochenende – nein, keinen Emu – sondern eine Frau im roten Mantel gesehen, die bei zauberhaftem Wetter durch Gotha bummelte, Jugendstilornamente und Glaskunst anschaute, die Sonne im Schlosspark genoss und die charmante Gartenstadtsiedlung „Am schmalen Rain“ bestaunte? Möglich, dass ich es war, die Sie da gesehen haben. Und Sie…? Waren Sie das, die Dame, die mir im Park freundlich zulächelte? Oder Sie, der Herr, der mit den beiden Kindern dort Fußball spielte? Dann sind wir uns ja schon begegnet, wie toll! Ich bin schon lange neugierig auf Sie alle. Sicher, meine Zeit in Gotha hatte ich mir anders vorgestellt. Ich hatte vor, ins Theater zu gehen, Lesungen zu besuchen, in den Antiquariaten zu stöbern, und vor allem mit vielen Menschen zu reden. Es ist etwas anders gekommen. Alle Veranstaltungen fallen aus, meine Ausgeh-, Stöber- und Plauderlust ist gedämpft. Wie vielleicht auch Sie kenne ich viele Menschen, die freiberuflich im Kulturbereich tätig sind und die Angst vor finanziellen Einbußen, ja, um die Existenz haben. Davon bin ich auch selbst betroffen. Wie Sie vielleicht auch habe ich Freunde, die gerade im Ausland in Urlaub sind und nicht vor die Tür dürfen. Wie Sie sorge ich mich um Ältere und Schwächere. Wie Sie schaue ich ständig Nachrichten. Wie Sie bemühe ich mich, der Lage mit Vorsicht und Verantwortungsbewusstsein zu begegnen und trotzdem gelassen zu bleiben. Ich stelle mir viele Fragen. Was ist eigentlich (noch) wichtig? Darf man wegen finanzieller Einbußen herumjammern, während Menschen an dem neuen Virus sterben? Wie können wir als BürgerInnen miteinander solidarisch sein? Noch ist alles neu für mich in Gotha. Ich verlaufe mich noch hin und wieder in der Stipendiatenwohnung mit den vielen Zimmern. Auf den extradicken Reifen des Stipendiatenfahrrads erkunde ich die Stadt und die Umgebung. Trotz mancher Beschränkungen bin ich froh, endlich hier zu sein. Ich hätte Sie gern unter glücklicheren Umständen, mit mehr Leichtigkeit kennengelernt. Aber das sucht man sich nicht aus.
If you enjoyed this article please consider sharing it!